Inhalt_AV: | Take 1 Wochenschaumusik, (2 mal, DARÜBER) Zitator (plakativ) “Rainier von Monaco heiratet Hollywoodstar Grace Kelly” “Letzte Spätheimkehrer aus Rußland zurück” “Sissi, die junge Kaiserin- ein Kassenschlager” “Chrustschow deckt Stalin-Verbrechen auf” “Sowjetische Panzer in Budapest” Sprecher/in Schlagzeilen 1956! Geräusch ( 013 # 2 zus. mit 622# 1 oder #5 ) Schulklingel und Jugendliche Sprecher/in Schlagzeilen machen auch zwei Vorfälle an Schulen, einer im Westen und einer im Osten Deutschlands. So verschieden die Ereignisse - so verschieden eben wie die beiden Systeme -, so ähnlich sind sie im Kern: Schüler widerstehen dem Druck der Obrigkeit , denunzieren keine Klassenkameraden. In Mannheim verpfeifen die Abiturienten jene Freunde nicht, die ihre inkriminierte Abiturzeitung verfaßt haben. Da kann der Oberstudien- direktor noch so wettern - :. Zitator (Kölmel) “Die Schüler haben ...das innere Gefüge der Schule gefährdet. Eine höhere Schule ist feinstes Porzellan.” Sprecher/in Aber auch die brandenburgischen Schüler verraten dem DDR – Minister Fritz Lange nicht, wer ihren stummen Protest gegen den Einmarsch der Sowjets in Ungarn angezettelt hat. Da kann er noch so drohen, wie sich ein Lehrer später erinnern wird: O-Ton (Take 2) “. So was werden wir uns nie im Leben großziehen! Und wenn ihr euch das nicht überlegt, dann fliegt ihr raus.” (0‘ 06) Sprecher/in In Mannheim ist der Direktors derart erbost über Artikel gegen den erzkatholischen Geist und die verlogene Moral der Schule in einer Abi-Zeitung, daß er allen aus dieser Oberprima das Reifezeugnis verweigert. Als Handhabe dient ihm ein Gesetz von 1913. Eine Affäre mit sehr bedenklichen aber auch komischen Zügen. Doch davon später mehr, in der höchst unterschiedlichen Rückschau der Beteiligten. MUSIK CD 606 7830 # 4 (Ernst Busch “ Die Partei, die Partei...) Sprecher/in Für die Schüler aus Storkow in der DDR spitzt sich die Lage im Winter 56 bedrohlich zu. Auch wenn sie heute erleichtert zurückschauen können, heitere Züge trägt ihre Affäre nie. Was war der Drohung des DDR Ministers vorausgegangen? Am 29. Oktober 1956 gehen in Ungarn viele Menschen auf die Straße, protestieren gegen das sozialistische Regime. Mit Panzern aus Moskau wird der Aufstand in Budapest blutig niedergewalzt. Die 17-, 18jährigen Schüler der Oberschule in Storkow im Südosten von Berlin erfahren es aus dem Radio, dem in der DDR verbotenen RIAS. Einige hören heimlich den Sender, hören den Aufruf, mit Schweigeminuten zu protestieren. Der Schüler Dietrich Garstka , 17 Jahre alt, ist Feuer und Flamme: das machen wir. 40 Jahre später, inzwischen selber Lehrer, erinnert er sich. O-Ton ( Take 4) “ Jeder war einverstanden (...). dann ging es im Flüster-ton:”Von zehn bis fünf nach zehn” – Schweigen nichts sagen. Aufstehn, nichts sagen. Auf die Uhr gucken, weiter nichts.(...). Wie ein Mann. Wie ein Mann. Weil wir einfach diese Wut hatten, diesen Zorn auf die Panzeraktion.” (ca 0‘ 17) Sprecher/in Es ist mitten im Geschichtsunterricht als 12. Klasse geschlossen – vierzehn Jungen und fünf Mädchen – für fünf lange Minuten schweigt. Der Lehrer kann sich dies nicht erklären, fragt die anwesende FDJ Sekretärin. Auch von ihr kein Wort, bis der Zeiger auf zehn Uhr fünf rückt: Das sei nichts weiter, beruhigt sie. Aber die Aktion wird ruchbar und die Schulleitung will es nun wissen. O-Ton (Take 5) “ Wenn ihr nicht den Rädelsführer sagt (.... ) es ging ja immer darum, den Rädelsführer rauszufinden. Also um einen im Prinzip an die Wand zu stellen. Und den hat man nicht rausfinden können (...) und immer “Wenn ihr den nicht sagt, passiert euch was” . Kein Mensch sagte uns, was passiert.” ( ca 0‘ 19) Sprecher/ in Die Schüler widerstehen dem Druck. Die Gangart der Obrigkeit wird härter. Ein Exempel muß statuiert werden. Einzeln werden nun sieben Verdächtige vom Schul-inspektor, Schuldirektor und dem Geschichtslehrer vernommen. Wer war der Anstifter dieser ‚faschistischen Provokation‘? Eine gefährliche Anklage. Am 13. Dezember platzt der Minister in den Mathematik-unterricht von Wolfgang Fricke . O-Ton (Take 6) “Als der Minister merkte, daß die Schüler nicht bereit waren, den Namen preiszugeben (...) da wurde er also dann sehr laut und hat die Schüler dann mehr oder weniger angeschrien: “Was bildet ihr euch denn ein! (...) Ihr studiert hier im Namen der Deutschen Demokratischen Republik und ihr sollt mal unsere Zukunft werden ! ( ca Sprecher/in Vier Stunden dauert das Verhör. Am Ende steht ein Ultimatum. Zitator “In einer Woche komme ich wieder. Wenn ihr mir bis dahin nicht den Namen des Anstifters nennt, wird die ganze Klasse vom Abitur ausgeschlossen .” MUSIK DDR histor. “ Bau auf, bau auf...” Sprecher/in Ein Schüler, der von der SED besonders ins Visier genommen wird, flüchtet sofort mit der S-Bahn von Berlin Ost nach Berlin West. Am 20. Dezember kommen vier SED Funktionäre in die Oberschule von Storkow. Der Klassensprecher steht auf. Zitator “Wie waren alle daran beteiligt, wir wollen auch alle die Konsequenzen tragen. Wir werden keinen einzelnen beschuldigen.” Sprecher/in Am 22. Dezember werden die Schüler in die Schule bestellt. Dort erwarten sie sieben SED Funktionäre. Man hat drei Rädelsführer ausgeguckt , die von der Schule verwiesen werden sollen. Die Mitschüler protestieren. Sie werden einzeln erneut befragt. Jeder lehnt die Strafaktion gegen die drei ab. Daraufhin wird das “Urteil” korrigiert: alle Schüler fliegen von der Schule. Fünf Wochen vor dem Abitur, abgestempelt als Staatsfeind. Dietrich Garstka macht sich keine Illusionen mehr. O-Ton ( Take 9) “ (..) uns war ja verboten, hier jemals, nicht nur in Storkow, sondern in der gesamten DDR – eine Oberschule zu besuchen. Ich wollte aber studieren, ich wollte doch nicht in die LPG ! (...) Als wir verwiesen wurden, da hieß es ja. ja was macht ihr nun, was macht ihr nun? Da sagten uns die Genossen. Ja, dann bewähren Sie sich mal in der Produktion! LPG gibt´s ja hier. Oder gehen Sie zur NVA und dienen Sie sich hoch.” (ca 0:17) Sprecher/in Da haben sie keine Wahl mehr, Karsten Köhler sieht es bis heute so. O-Ton ( Take 10) “Dann blieb nur der Westen, nich. Und so haben wir dann wäh-rend eines Fußballspiels,(...) nach unserm Raus-schmiß haben wir also noch im Namen der Schule hier Fußball gespielt – haben wir uns verabredet, wie wir abhauen und wohin.” ( ca 0:13 ) Sprecher/in Einzeln oder zu zweit fahren sie an den Weihnachts-feiertagen nach Westberlin. Am 28. Dezember meldet sich der letzte der Storkower Oberschüler dort im Notaufnahmelager. Vierzehn Jungen und ein Mädchen. Vier Mädchen müssen aus familiären Gründen zurück-bleiben. Sie sind um ihre Situation nicht zu beneiden. Sprecher/in Die fünfzehn , die über Westberlin per Flugzeug in den Westen gelangen haben großes Glück. Die Bundes-republik nimmt sie mit offenen Armen auf, sind sie hier doch der lebende Beweis für das Unrechtsregime DDR. Sie kommen in ein Internat, erhalten einen eigenen Lehrer, einen eigenen Lehrplan und verlassen zwei Jahre später mit dem Westabitur in der Tasche ihre Bensheimer Zuflucht. MUSIK CD 60 51 156 Bill Haley # 7 00.05 Akzent oder # 17 anspielen alternativ Billy Vaughan CD 60 72 569 oder 60 78 009 Sprecher/in Für die Storkower ist der Westen ein Hort der Freiheit. Für die hiesigen Jugendlichen sind die rigiden Verhaltens-ormen der 50er Jahre oft Anlaß zum Protest. Viele Lehrer antworten darauf mit körperliche Strafen. Schlagzeilen 1956: Zitator Züchtigungsrecht durch Gericht anerkannt. Rohrstock- nur in großen Klassen. BGH erklärt Prügelstrafe für unzeitgemäß. Sprecher/in Die Rock-Musik aus den USA und England löst eine erste zaghafte Revolte in der Bundesrepublik aus. Halbstarke und Teenager schockieren mit Saalschlachten bei Groß-konzerten. So mancher Pädagoge fühlt sich da aufgerufen, die Kultur des Abendlandes zu retten. Oberstudienrat Hartmut Horchler hat als junger Lehrer in solch einem Kollegium angefangen. Gleich die erste Klasse, die er zum Abitur führt, bringt ihn in Konflikt mit seinem Direktor Wilhelm Kölmel. O-Ton (Take 13 ) Horchler Es gab schon Kollegen, die mir geraten haben, jetzt gehen Sie am besten woanders hin. Da haben Sie´s ruhiger. “ ( ca 0:30) Sprecher/in Was war geschehen, daß sogar im Westen einem Lehrer zu einer Art Flucht geraten wird und daß selbst die FAZ über den Konflikt berichtet? Zitator “Eine Prima erhält kein Abiturzeugnis. Die Schul-verwaltung nimmt Anstoß an der Bierzeitung einer Mannheimer Klasse.” Sprecher/in Aus heutiger Sicht nimmt sich der Text harmlos aus: er spießt den Erz- Katholizismus des Direktors auf aber auch die Angepaßtheit der Schüler. Allein schon der Titel :” Der abgestiegene Radfahrer “und die Karikatur eines Arschkriechers” sind zu viel für die Schulleitung. Gipfel der Entgleisung: es wird angeprangert, daß die Gretchen-tragödie im Faust mitfühlend behandelt und gleichzeitig einer schwangeren Schülerin die Zulassung zum Abitur versagt wird. So geschehen am benachbarten Mädchen-gymnasium. Die Abi- Zeitung rät deswegen, mehr verheiratete Direktorinnen an die Mädchenschulen zu holen statt der alten Jungfern. Das schlägt dem Faß den Boden aus. Direktor Wilhelm Kölmel O-Ton (Take 14 ) Kölmel (....) zunächst einmal hab ich disziplinär reagiert, disziplinär reagiert und habe versucht gewissermaßen die Schüler zur Ordnung zu rufen und ihnen die volle Autorität der Schule wahrhaft zu zeigen (pathet). Und die bestand eben darin, daß ich natürlich – nicht allein, nicht allein ; immer im Zusammenhang, im Einverständnis mit der oberen Schulbehörde (...), nicht, es war ja klar, daß ich –solche Entscheidungen wie etwa das Hinauszögern der Ausgabe des Abiturzeugnisses nicht von mir aus allein treffen konnte. ( 0:30) Sprecher/in Die juristische Handhabe die Zeugnisse zu verweigern, stammt von 1913. Zitator “Wenn das Verhalten eines Schülers während der Prüfung oder nach deren Abschluß Anlaß zu einer Beanstandung gegeben hat, die, wenn sie vor der Prüfung vorgelegen oder bekannt gewesen wäre, zur Zurückweisung von der Prüfung wegen mangelnder sittlicher Reife geführt hätte, so kann ungeachtet der bestandenen Prüfung die Zuerkennung des Reife-zeugnisses durch das Unterrichtsministrium versagt werden.” O-Ton (Take 15) Kölmel “Ich hab ein ungebrochenes Verhältnis zur Autorität gehabt. Immer! Ein ungebrochenes Verhält-nis zur Autorität. Immer. (.. .) für mich war eben einfach die Aufgabe des Schulleiters:die Schule in ihrer Bildungs-aufgabe rein zu halten vor allen Einflüssen, die diese Aufgabe gefährden(...) das war das Ziel.” (ca 0.35) BLENDE Sprecher/in Und die Schüler? Wie sind sie mit der Situation umgegangen? Gerhard Frey Diplom Ingenieur in Freiburg: O-Ton ( Take 16) Frey “In der heutigen Zeit muß man natürlich darüber lachen, das ist ganz klar, über die Situation damals. Damals hatten wir, ich wenigstens, Angst, daß wir kein Abitur machen können. Das war eine sehr starke Furcht an und für sich. Aber nachdem die Presse die ganze Sache mehr zu unseren Gunsten beurteilt hat, da entstand eine gewisse Schadenfreude.” ( 0. 28) Sprecher/in Dann geschieht etwas, das Direktor Kölmel heute selber “einen schwerwiegenden Fehler”, ja “eine pädagogische Dummheit ersten Ranges” nennt: er bestellt alle Schüler noch einmal zu sich in die Schule. O-Ton ( Take 19 ) Ritzert Er hat jeden einzelnen verhört und ihn gefragt, ob er mitgeschrieben hat an der Zeitung, oder ob er nicht mitgeschrieben hat, so hätt er´s ja auch rauskriegen können. Wir haben vorher ausgemacht, wir sagen einfach, wir verweigern die Antwort auf jede dieser Fragen und das haben wir durchgehalten. .... Der Direktor hat einen Verräter gesucht, und ist damit aufgelaufen. Sprecher/ in Die Auseinandersetzung geht bis nach ganz oben, bis ins badenwürttembergische Kultus-ministerium. Pfarrer Dittmann erinnert sich O-Ton ( Take 22) Dittmann Schließlich hat sich dann die Landesregierung mit dieser Sache beschäftigt und wie ich noch in Erinnerung habe zwei Stunden getagt. Über diesen Fall und einen Parallel-fall in Heidelberg, wo Schüler, Abiturienten das Lehrer-kollegium auf Nachttöpfe gesetzt hat und darunter geschrieben hat: Sitzung des Lehrerkollegiums, ne. das war also dort die beanstandete Geschichte. Das waren also zwei Parallelfälle, die damals viel Staub aufgewirbelt haben. BLENDE Sprecher/in Als Prozesse drohen lenkt der Kultusminister ein und weist die sofortige Ausgabe der Zeugnisse an. Der Direktor muß sich beugen. Aber eine Sanktion bleibt ihm. Seine hochgeschätzte Kopfnoten für “Betragen” wird geändert. O-Ton (Take 25) Frey Gut, außer der Betragensnote, die wurde ja geändert, aber die zählt ja sowieso nichts.Also in meinem Original-zeugnis wurde radiert , da wurde das ”sehr” entfernt ..von “sehr gut” auf “gut” ja,...das mit dem Radiergummi. (0:19) Sprecher/in Woher kam nun der Geist zum Widerspruch, die Einübung in Zivilcourage? Professor Gerhard Ritzert O-Ton ( Take 28) Ritzert “Das war ohne Zweifel eine Vorstufe der Demokratie, wie sie heute üblich ist und rückblickend können wir da stolz darauf zurückblicken, daß wir da Protagonisten waren in dieser Weise. “ |