AV2496 Oral History Projekt „Alle Wege führen nach Mannheim“: Interview mit Senad Hadziselimovic, 2012 (Audiovisuelle Sammlung)

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Title:Oral History Projekt „Alle Wege führen nach Mannheim“: Interview mit Senad Hadziselimovic
Ref. code:AV2496
Ref. code AP:AV2496
Originalmedium:nur digital vorhanden
Datumsbemerkung:16.06.2012
Creation date(s):2012
Rechte:Stadtarchiv Mannheim
Inhalt_AV:Maria Alexopoulou [i. F. MA]: Heute ist der 16. Juni 2012. Wir befinden uns in der Wohnung der Familie Hadziselimovic in K 1, 6 in Mannheim, Innenstadt. Mein Name ist Maria Alexopoulou und ich interviewe im Rahmen des Oral History Projekts „Alle Wege führen nach Mannheim“ Herrn Senad Hadziselimovic. Herr Hadziselimovic sind Sie damit einverstanden, dass das Interview aufgenommen wird?
Senad Hadziselimovic [i. F. SH]: Ja, natürlich.
MA: Vorab die Frage, wie lange leben Sie in Mannheim und in Deutschland und welche Staatsbürgerschaft haben Sie im Moment und was ist Ihr derzeitiger Beruf?
SH: Also ich bin mit der Wohnung in Mannheim seit 2005. Seit 1996 bin ich in Heidelberg, war auch in Mannheim gebunden, also war ich auch sehr häufig in Mannheim. Und in Deutschland bin ich seit 1993. Ich bin von Beruf Arzt.
MA: Und Ihre Staatsbürgerschaft ist im Moment?
SH: Bosnisch-herzegowinisch.
MA: Gut, dann wollen wir jetzt gleich mit den biographischen Daten weitermachen. Dass Sie mir vielleicht erzählen wo und wann Sie geboren sind, etwas über Ihren Geburtsort, Ihre Eltern, Ihre Familie und Geschwister, also wenn wir ein bisschen zurückgehen in die Zeit.
SH: Ich bin 1965 in Banja Luka in Bosnien geboren. Aufgewachsen bin ich in einer kleinen Stadt so fünfzehn Kilometer von Banja Luka entfernt, die heißt Čelinac. Dort bin ich in die Grundschule gegangen, bei uns ging die Grundschule acht Jahre. Und die Mittelschule, die dann in meinem Fall ja die medizinische Mittelschule war oder wie hier die Krankenpflegeschule, die habe ich dann wieder in Banja Luka besucht. Wehrdienst gemacht und dort auch Medizin studiert, sieben Jahre. Dann war ich während des Krieges sozusagen im letzten Jahr meines Studiums. Sonst habe ich noch eine Schwester, sie hat dort Jura studiert. Sie ist dann während des Krieges mit mir zusammen nach Deutschland gekommen. Sie ist jetzt in Dänemark. Gut, meine Eltern sind immer noch dort, waren eigentlich die ganze Zeit in Bosnien und sind dort geblieben. Es ist auch eine Arbeiterfamilie. Also mein Vater ist ein Arbeiter, jetzt Rentner, aber hat in einer Fabrik gearbeitet und meine Mutter ist Hausfrau.
MA: Ihre Eltern haben dann Wert darauf gelegt, dass Sie studieren alle beide oder war das damals unter den Verhältnissen, unter denen Sie gelebt haben… war das einfach für Ihre Eltern oder war das eher schwierig als Arbeiter zwei Kinder ins Studium zu schicken?
SH: Es war sicherlich nicht leicht, aber irgendwie die Schule ging gut und die Eltern, wie alle anderen, wollen den Kindern das ermöglichen. Sie haben sich bemüht, dass es klappt, es hat auch geklappt. Ich hatte für ein paar Jahre auch ein Stipendium. Ansonsten haben wir etwas sparsam gelebt, aber auch gut gelebt und waren auch zufrieden, es war auch möglich. Es war kein Problem.
MA: Dann fing Ihr Berufsleben schon an in der Zeit?
SH: Eigentlich nicht. Also wie gesagt, als der Krieg begonnen hat, war ich noch im letzten Jahr meines Studiums und habe noch meine letzten Kurse besucht. Da war ich dann einige Zeit einfach zu Hause in dieser Kriegszeit, dann haben wir Arbeitsverpflichtungen gehabt, weil wir als Minderheit nicht in der Armee waren. Und dann im Januar nächsten Jahres, also 1993, wurde ich sogar festgenommen. Dann hat sich das alles geändert und dann habe ich gedacht gut, jetzt muss man dann weg. Und die Möglichkeit war dann nach Kroatien zu kommen, ich bin nach dem Studium sozusagen gleich weitergegangen. In Kroatien hätte ich die Möglichkeit gehabt, mein Studium abzuschließen als Gaststudent, aber ich hatte dann nicht Geld, um dort zu leben. Und so ging der Weg weiter, so bin ich nach Deutschland, also zuerst nach München gekommen und dort habe ich dann gleich begonnen zu arbeiten, weil ich diese Krankenpflegeschule hatte. Dann habe ich eigentlich in Deutschland gleich als Krankenpfleger gearbeitet, Deutsch gelernt, Kurse besucht. Dann, nach dreieinhalb Jahren, habe ich gedacht, gut, jetzt müsste ich mein Studium fertig machen. Da war die Überlegung, gut, in Bosnien ist es vielleicht kürzer, da bin ich vielleicht schneller fertig, aber wenn ich hier bin, habe ich vielleicht ein Diplom, das dann europaweit anerkannt ist und habe mich dann entschieden hier zu studieren. Also zunächst mal wollte ich in München bleiben, habe mich dort beworben, aber das Schicksal wollte, dass ich nach Heidelberg komme und das war auch eine schöne Zeit. So bin ich dann sozusagen wegen meines Zweitstudiums nach Heidelberg gekommen 1996.Und dann langsam Anschluss an Mannheim gefunden. Als ich heiraten wollte, habe ich dann gezielt eine Wohnung in Mannheim gesucht.
MA: Ich gehe noch einmal zurück in der Zeit. Sie haben erwähnt, dass Sie, weil Sie einer Minderheit angehörten, nicht in der Armee waren, können Sie das vielleicht erläutern?
SH: Also in Bosnien war dann Krieg. Wir sind in einer Stadt gewesen, wo es mehrheitlich serbische Bevölkerung war. Die Möglichkeit im Krieg mitzumachen war dann auf der serbischen Seite und wir als bosnische Muslime hätten dann mit dieser Armee gegen unser Volk gekämpft und da war es natürlich nicht normal, dass man sagt, klar ich mache mit, sondern wir haben uns dann nicht gemeldet. Sie haben für uns dann gewisse Verpflichtungen gefunden, wie Straßen putzen, irgendetwas arbeiten, eine Beschäftigung. Dann habe ich da auch etwas machen müssen.
MA: Und wie war das eigentlich vorher, bevor der Krieg ausgebrochen ist? Sie als Minderheit, war Ihre Familie irgendwie diskriminiert oder hatte man da irgendwelche Probleme?
SH: Nee. Nein, das kann man nicht sagen. Es war eigentlich alles völlig normal, also für mich absolut normal. Es war eine schöne Zeit, wir haben alle gut zusammen gelebt. Das sagen auch alle anderen, in anderen Teilen des Landes. Liegt wahrscheinlich daran, dass alle so erzogen sind in diesem sozialistischen Land. Es war eigentlich ganz gut und auch in der Stadt, wo ich gelebt habe, war ich in der Schule in allen möglichen Funktionen und das hat keinen dort gestört. Ich habe auch Sport gemacht dort und hatte Freunde und in allen möglichen Bereichen war eigentlich alles super. Aber Kriegszeiten sind immer schlechte Zeiten und da verändert sich alles.
MA: Also praktisch von einem Tag auf den anderen waren Sie dann…?
SH: Eigentlich so, ja.
MA: Waren Sie irgendwie politisch engagiert oder haben Sie einfach normal Ihr Leben gelebt?
SH: Nein, ich war politisch gar nicht aktiv und in der Zeit vor dem Krieg wurde ich von einigen Leuten gefragt, weil da war ich schon fast Arzt. Es haben sich manche auch dafür interessiert, aber ich war der Meinung, Ärzte sollten sich nicht in die Politik einmischen. Das ist ja nicht gut und ich halte es auch heute noch für nicht gut. Wenn das alles Politisches ist, vor allem, wenn das noch eine Partei ist, die mit Nationalitäten was zu tun hat, finde ich es nicht gut. Ich war absolut dagegen, insofern war ich nirgendwo aktiv. Mein Hobby war Sport und das war dann nicht in der gleichen Stadt, sondern in einer anderen, da hat man sehr viel Zeit verloren hin und her zu reisen. Und das war genug. Das Studium und das war’s. Also eigentlich habe ich nichts anderes gemacht, studiert und Sport gemacht.
MA: Und wie war das, als Sie dann verhaftet werden sollten? Wie kam es dazu?
SH: Das ist so eine Razzia, das bedeutet man blockiert die Stadt und man sucht alle Leute, die nicht in der Armee sind. Ich war bei dieser Verpflichtung, es gibt ja in der Stadt so eine Firma, die alle Läden und Supermärkte mit Waren versorgt. Dadurch dass die ganzen Mitarbeiter alle Serben waren, sind alle zum Krieg gegangen, dann haben die jemanden gebraucht, der die Ware trägt. Für mich war es auch vernünftig, weil ich dann nicht auf der Straße war, so wie die anderen, dass mich alle sehen wie ich die Straße putze. Für mich war es okay im LKW mit jemandem Hin und Her zu fahren und dann irgendwo im Lager was tragen. Dann sozusagen war eine Einheit von der Armee, die alles blockiert hat und alles kontrolliert. Und so wurden wir auch kontrolliert und dann hat man gesagt, „Okay, jetzt kommt Ihr mit uns“. Das war dann auch vor Weihnachten, aber serbische Weihnachten, also am sechsten Januar. Am sechsten wurden wir verhaftet und in die Kaserne gebracht und haben wir gleich zwei Tage frei bekommen sozusagen über die Feiertage und dann habe ich mich nicht mehr gemeldet. Dann habe ich eine Möglichkeit gesucht hier her zu kommen.
MA: Was war das für eine Kaserne?
SH: Eine ganz normale Militärkaserne.
MA: Das war, dass Sie in die Armee zwangsrekrutiert werden sollten?
SH: Genau. Die Militärpolizei hat das gemacht, die haben dann alle genommen, auch die serbischen Mitbürger, die nicht in der Armee waren. Zum Beispiel ein LKW-Fahrer war ein Serbe und den haben sie auch mitgenommen. Dann hieß es „Okay, jetzt geht Ihr zur Front“. Diese Frontlinie würde bedeuteten irgendwo jetzt eigentlich gegen das eigene Volk zu kämpfen. Dann hat sich das ergeben, dass Feiertag war, dann haben wir eine Unform bekommen und dann wurden wir zwei Tage nach Hause, Montag wieder da, ja? Dann habe ich die Möglichkeit gehabt doch nicht zu kommen.
MA: Ja, wie das Leben so ist mit so Zufällen, die dann einen… Wissen Sie von anderen Leuten oder Freunden, dass die dann tatsächlich auch in dieser Armee waren?
SH: Ja, natürlich. Manche sind die ganze Zeit geblieben.
MA: Die mussten dann mit den Serben sozusagen gegen andere Bosnier kämpfen, wobei die Serben waren ja auch Bosnier in dem Sinne?
SH: Eigentlich schon, ja. Aber die, die gegangen sind, sind dann die ganze Zeit geblieben oder es gab auch immer wieder Fälle, wo jemand ausgetauscht wurde, aber das sind Einzelfälle.
MA: Und an wen konnten Sie sich dann wenden, um praktisch Ihre Flucht zu planen, oder wie war das dann? Sie haben dann innerhalb von einem Tag entschieden, „Ich gehe jetzt“?
SH: Es ist eine kleine Stadt und nicht alle Menschen werden über Nacht böse. Um weiter zu kommen haben mir wieder die Serben geholfen, es gibt keine anderen. Sie brauchen da verschiedene Papiere, um die Stadt zu verlassen, es wurde überall alles kontrolliert und man musste über viele Punkte durchgehen. Um aus dem Land zu gehen, brauchte man viele offizielle Genehmigungen. Das krieg man wieder, aber gut… Aber eigentlich war es eigentlich auch gewollt, die Leute waren damit einverstanden, dass wir gehen. Da erfüllt man ein Ziel, da kriegt man sozusagen… In diesem Teil war das Territorium fast ethnisch sauber und so wird es noch sauberer und ich denke das war auch ein
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bisschen gewollt. Aber ich hatte dann so keine Probleme. Ich habe dann, wie gesagt eine Bescheinigung bekommen, dass ich das Land verlassen kann. Manche Leute haben dann eine ganze Menge bezahlt, ich habe es jetzt ohne Geld bekommen, weil mich die Leute gekannt haben oder weil sie mir helfen wollten. Dann brauchte man auch eine Garantie aus einem dritten Land, dass man eingeladen wird. Das habe ich dann selbst gebastelt, das kann man irgendwie faxen, keine Ahnung. Da zeigt jemand, wie man von einem Fax ein anderes Fax macht. Und dann an der Grenze zu Kroatien, natürlich, das haben die gleich erkannt, aber dann waren plötzlich im Bus die Kinder und dann waren wir dort auch eine Nacht auf der Straße. Und da hat auch jedermann gesagt, „Okay, eigentlich ich kann Euch dort nicht sehen und es ist kalt und mit den Kindern… Dann lassen wir die weg“. Es entstehen dann diese Situationen und in meinem Fall waren alle positiv gelöst. Ich hatte im Großen und Ganzen noch sehr viel Glück. Weil zum Beispiel bei dieser Razzia sind die anderen kräftig geschlagen worden, zwar nicht, dass sie verhaftet sind und da war noch vieles anderes. Bei mir war das Glück, dass der Chef von dieser Einheit jemand war, den ich noch vom Sport gut kannte. Dann hat er gesagt „Ja, Leute passt mal auf, der ist Arzt“. Dann ist eine Frau krank geworden und dann habe ich sie ins Krankenhaus gebracht. So ergeben sich Fälle, die für manche glücklich sind und für manche unglücklich sind. Ich hatte dann alles in allem noch sehr viel Glück. Ich bin dann auch noch glücklich weiter gekommen. Und dann auch hier…
MA: Wie war es dann für Ihre Eltern, die dann noch da geblieben sind? Also hatten die dann noch Probleme oder wie ist es ihnen ergangen in der Zeit?
SH: Also für die Eltern war es sicherlich eine große Erleichterung, als die Kinder weg waren
MA: Ihre Schwester ist dann auch…?
SH: Die ist gleich mit mir gekommen, ja. Die Eltern sorgen sich um die Kinder und wenn die Kinder bisschen weiter sind und sicher sind, ist es für die eine Erleichterung. Es ist sicherlich nicht leicht, aber sie haben dann auch im Ganzen wieder Glück gehabt. Sie haben während der ganzen Kriegszeit keine unangenehmen Sachen erlebt. Man hat natürlich gewusst, dass sie da sind und man hat versucht, dass sie aus dem Haus gehen, dass das Haus jemand anderem gegeben wird oder was da alles so passiert. Aber letztendlich sind sie geblieben und ich glaube sie haben auch Unterstützung von Nachbarn gehabt und sind immer noch dort. Sie sind jetzt krank, sie gehen zum Arzt jeden Tag. Mein Vater ist bei der Dialyse und wird drei Mal in der Woche mit dem Auto gefahren und das funktioniert alles eigentlich normal. Sie haben während dem Krieg trotz allen schweren Sachen keine Unangenehmen gehabt.
MA: Dann waren Sie in Kroatien, wie ging der Weg dann weiter? Wie kam es dann, dass Sie nach Deutschland gekommen sind, wie hat sich das ergeben?
SH: Also in Kroatien war ich zwei Wochen. Ich habe dann eigentlich gleich an der Uni den Status bekommen als Gaststudent und habe dann gerechnet, was man dann braucht, um dort einen Monat zu leben. Damals waren es D-Mark, dreihundert D-Mark brauch man in Zagreb. Zagreb ist Hauptstadt, Kroatien ist auch teuer. Und ich habe dann alle möglichen Jobs angeschaut, gesucht. Wenn man den ganzen Monat irgendwo arbeiten würde, würde man einhundertfünfzig D-Mark verdienen und dreihundert war viel. Und dann habe ich gedacht „Gut, damit kann ich nicht leben“. Und dann hat sich die Möglichkeit ergeben, nach Deutschland zu kommen und dann bin ich gekommen.
MA: Hatten Sie Freunde in Kroatien, wo Sie erst einmal hingehen konnten?
SH: Eigentlich nicht, aber einer von meinen Nachbarn war auch in dieser Kriegszeit bei seinem Bruder in Kroatien und dann habe ich ihn gefunden. Dann war ich ein paar Tage bei ihm. Dann habe ich die restlichen Tage in einer Arbeiterunterkunft geschlafen. Also man bezahlt Bett und Übernachtung. Ein bisschen was Geld hatten wir mitgebracht, das hat dann gereicht.
MA: Wie sind Sie dann nach Deutschland eingereist? Hatten Sie da auch Kontakte oder Freunde?
SH: Leute, die wir nicht gekannt haben, die eigentlich Nachbarn oder Bekannte sind, sie haben uns eine Einladung geschickt und dann sind wir gekommen. So wie alle anderen. Also wenn Sie jemand nach Deutschland bringen wollen, muss man eine Garantie oder Einladung schicken. Und dann hat jemand uns das geschickt.
MA: Also über Kontakte wieder, die jemanden in München kannten?
SH: Genau, die Leute, die in München gelebt haben, haben dann gesagt „Okay, sie kommen aus der gleichen Ortschaft wie wir“. Dann haben sie irgendwann wahrscheinlich meine Mutter gefragt, möchte jemand von der Stadt weg, damit sie eine Einladung schicken, dann haben sie auch eine geschickt. Die war dann in Zagreb, als wir gekommen sind. Also noch wo wir in Bosnien waren…
MA: Haben Sie das vorbereitet sozusagen?
SH: Sie haben gewusst, dass Krieg ist und vielleicht wird jemand gehen wollen und diese Menschen haben sich dann angeboten, das gleich zu schicken. Die haben es dann geschickt, wo ich gar nicht gedacht habe, ich habe es auch nicht gewusst. Als wir dann in Zagreb waren, dann hieß es, „Okay, die haben das schon geschickt“. Man musste es suchen, es war dann irgendwo in einem Ministerium für Flüchtlinge. Und dann hat man wieder Leute suchen müssen, die dann so etwas finden, weil dieses Ministerium hat, glaube ich, jeden Tag, täglich so einen Karton mit so etwas bekommen, mit ich weiß nicht wie vielen hundert Briefen. Dann hat man das auch suchen müssen und dann findet man wieder Leute, die dann dort arbeiten, die dann jemanden suchen, der diese Kartons im Ministerium sucht. Der dann fragt, wie war der Briefumschlag. Und dann hat jemand diesen Briefumschlag gefunden. Dann hat er uns das wieder zurückgegeben und dann haben wir ein Visum für Deutschland bekommen.
MA: Das war auch eine bosnische Familie, die dann…?
SH: Ja, sozusagen aus dem gleichen Ort. Eine Familie, die als Gastarbeiter schon vor vierzig Jahren gekommen sind.
MA: Sie sind dann praktisch mit dem Visum in Deutschland eingereist. Wie ging es dann weiter, als Sie in Deutschland waren, haben Sie auch bei dieser Familie gewohnt?
SH: Genau, zunächst sind wir zu dieser Familie gekommen und dann haben wir uns als Flüchtlinge angemeldet und dann sind wir in eine Unterkunft gekommen, so Baracken. Da waren eigentlich die meisten bosnische Flüchtlinge, aber es waren auch aus der ganzen Welt wie man das so findet.
MA: War das dann bei München?
SH: Ja, das war in München. Das war wahrscheinlich eine, die dann extra da gebaut wurde und dann später abgebaut wurde, das kann man jetzt nicht mehr finden. Insofern hatten wir wieder Glück, dass die Baracken neu waren, weil die erste, wo wir in den ersten Tagen waren, wo alle Leute kommen, Asylbewerber und so, das sind ja dann Unterkünfte mit acht Betten und die waren dann wahrscheinlich schon seit Jahren da bestehen. Aber dann hatten wir wieder Glück, dass wir nach drei Tagen verlegt wurden in diese eigentlich neu gebaute, es waren sechs Baracken. Da war ich dann drei Jahre, nein Entschuldigung, nee, ich war in München drei Jahre, in diesen Baracken waren wir ein paar Monate, weil ich ja dann sehr schnell einen Job gefunden habe. Ich bin ja im Februar nach Deutschland gekommen, schon drei Tage später waren wir in diesen Baracken und ich habe dann am ersten August begonnen zu arbeiten. War ich dann ein halbes Jahr in den Baracken und dann mit dem Job hab ich ein Zimmer im Schwesternwohnheim vom Krankenhaus in München, wo ich dann gearbeitet habe, da habe ich gleich meine Schwester mitgenommen und dann waren wir so in einem Einzimmerapartment die nächsten drei Jahre.
MA: Wie war dann Ihr Status, waren Sie in einem Verfahren drin?
SH: Genau, ja, da kriegt man einen Aufenthalt für vier Monate und dann noch einmal vier und dann irgendwann später waren es sechs Monate und dann irgendwann, ich weiß es nicht, auf ein Jahr, zwei Jahre, das hat sich dann immer geändert.
MA: War das dann für Sie eine Sondergenehmigung, weil Sie in einem medizinischen Beruf gearbeitet haben oder durfte das jeder, der praktisch eine Arbeit gefunden hat, durfte dann raus aus den Baracken?
SH: Ja, genau so. Wenn jemand arbeitet oder Geld hat, um eine Wohnung zu bezahlen, dann kann er gehen, das ist kein Problem. Ich hatte noch kein Geld, aber in dem Moment, als ich einen Vertrag hatte, dass ich einen Job habe und auch Bescheinigung, dass ich eine Wohnung habe, konnte ich gleich ausziehen. Für meine Schwester war es ein bisschen schwieriger, sie hat dann keinen Job gehabt und kein Geld und dann musste ich irgendwas zeigen, beweisen. Sie war dann ein, zwei Monate offiziell dort, aber eigentlich bei mir und irgendwann war das dann auch genehmigt. Man musste irgendwas beweisen so zwei, drei Monatsabrechnungen, was ich verdiene. Für sie war es dann schwieriger, aber eigentlich ist sie mit mir dann gegangen.
MA: Wie war es in der Anfangszeit sprachlich, das war bestimmt nicht so einfach? Konnten Sie sich dann mit Englisch verständigen oder wie haben Sie sich dann auch auf der Arbeit verständigt?
SH: Also es war so, ich habe in der Schule Deutsch gehabt als Fremdsprache. Natürlich ist das aber nicht etwas, mit dem man sprechen kann. Und dann in dieser Zeit, in diesem halben Jahr, wo ich dann nicht mehr studiert habe, als diese Verpflichtung war, hatte ich nichts anderes und am Nachmittag hab ich mal auch Bücher gelesen und hab auch meine Schulbücher aus der ersten Klasse Deutsch nochmal gelesen. Also ich konnte schon sagen, „Wo ist die Post?“, „Ich möchte was kaufen“. Dann gab es in diesen Baracken, es waren die meisten, wie gesagt, bosnische Flüchtlinge, eine Gruppe – das waren nicht alle Deutschlehrer – Menschen, die bereit waren, umsonst einen Deutschkurs anzubieten. Einige waren Deutschlehrer, eine war dann ehemaliger Lehrerin-Inspektor, die andere war Studentin. Also fünf Leute haben sich zusammen getan und haben einen Intensivkurs Deutsch gemacht, in dem jeder von denen einen Tag Unterricht hatte und wir hatten Intensivkurs jeden Tag. Sozusagen, dass wir in der Baracke, wo ich gelebt habe, also dem Klassenzimmer, weiß nicht, jeden Tag eineinhalb Stunden Unterricht hatten und die Grundstufe Eins habe ich dann schon fertig gehabt. In drei Monaten haben wir das erste Buch schon komplett durchgemacht. Kurs zwei habe ich dann begonnen, ich habe es dann weitergemacht, weil die Klinik nicht so weit weg war von dieser Unterkunft, also zwei Haltestellen oder so. Dann hab ich den zweiten Kurs auch noch mitgemacht. Aber als ich begonnen habe zu arbeiten, hatte ich schon die Grundstufe eins, von drei. Am Anfang war es aber auch schwierig, als ich gekommen bin, waren nur Deutsche, die Deutsch gesprochen haben, es war alles nur Brummen im Ohr. Dann war ich gezwungen das möglichst schnell zu verstehen, vor allem in der Arbeit, wenn jemand was sagte, musste ich es holen und verstehen. Dann habe ich weiter Kurse gemacht, dann hab ich später Intensivkurs Grundstufe drei am Goethe-Institut. Dann habe ich immer meine Schichten gewechselt, dass ich nur Spät- oder Nachtdienst habe und vormittags von neun bis zwölf bei diesem Intensivkurs bin. So habe ich den Grundkurs relativ gut gemacht und damit war die Grammatik abgeschlossen. Am Ende habe ich dann weiter auch die Mittelstufe gemacht und auch die Prüfung für das Studium. Das war alles noch mit den Schichten zusammen und war immer so bei der Arbeit „Leute bitte verbessert mich“. Dann hab ich auch bei der Arbeit was schreiben können, alle waren dann so ein bisschen Lehrer und haben mir geholfen. In diesen drei Jahren habe ich dann gearbeitet, Geld verdient und die Sprache gelernt. Das hat sich dann gut entwickelt.
MA: Bei Alltagsproblemen, gab es da Leute, an die Sie sich dann auch wenden konnten? Die Ihnen auch Hilfe geben konnten mit allen möglichen Sachen? Wenn man jetzt ganz neu ist irgendwo, dann ist es ja oft so…
SH: Ich kann mich jetzt nicht so erinnern, dass es irgendwo Probleme gab. Also wenn man kommt, man lebt in dieser Unterkunft, man spielt ab und zu Fußball und dann geht man da, wo man vertraut ist. Die U-Bahn Haltestellen sind am Anfang sehr kompliziert, den richtigen Ausgang zu finden, aber ich war dann auch nicht allein. Aus meiner Ortschaft war also noch eine Familie, ein Ehepaar, fast die Nachbarn, die mit dem gleichen Bus weitergekommen sind. Dann sind wir immer zusammen gegangen. Dann gab es in München natürlich sehr viele Flüchtlinge, die auch in der Stadt zu finden waren. Man konnte jeden Abend ausgehe, am Wochenende Leute treffen. Ich bin aber nicht so jemand, der dorthin gegangen ist. Aber man kann sich erkundigen und wie dann alles weiter geht.
MA: Das heißt, es gab so ein Netzwerk einfach von Leuten, wo man sich, wenn man wollte, auch anschließen konnte?
SH: Das konnte man schon, aber das was man braucht, man sucht sich den Arzt in der Nähe oder man geht dann, wenn man in der Stadt was erledigen will, weiß man die Adressen, wo Visum zu verlängern ist, wo was anderes zu machen ist. Das kriegt man auch gesagt, das und das muss man machen. Das andere, je nachdem. Da sind ja auch manche, diese gleichen Nachbarn, die uns die Einladung geschickt haben, die sind auch gekommen und haben uns besucht. Dann waren wir bei denen Essen, Kaffee trinken. Da waren auch viele andere, man hat also auch viele Landsleute und Nachbarn dort gehabt, entweder die schon lang vor dem Krieg gekommen sind oder manche aus dem gleichen Ort vielleicht ein paar Monate früher gegangen sind. Das war eigentlich schon für alle klar, dass wir weg müssen. Da gab es natürlich in der Stadt, jetzt kommen wir wieder in die Kriegszeit, da hat man auch an einem Tag einige Häuser verbrannt gehabt und dann waren manche Leute verletzt und einer wurde ermordet. Und da wollten wir, alle Muslime, die Stadt verlassen. Dann waren wir, glaube ich, eine Woche in der Schule alle gemeinsam. Das war, glaube ich, der ausschlagende Moment, wo alle Leute gesagt haben, alle die geglaubt haben, sie können bleiben, die müssen weg. Da hat es begonnen, dass immer wieder jede Woche, jeden Monat ein paar Familien gegangen sind. Dann hat man wieder die ersten Nachbarn also sozusagen aus dem ersten Haus, nebenan wieder in München getroffen. Ja, und da haben sie wieder geholfen, da war dann jemand, der in der Lage war mit ein bisschen Deutsch den anderen zu helfen zum Arzt zu gehen oder zum Sozialamt oder zum Arbeitsamt. Das muss man alles machen. Ich war da sozusagen sehr engagiert, ich war dann an fast jedem freien Tag noch irgendwo unterwegs. Bei allen Ärzten, bei allen Ämtern.
MA: Sie sind mit anderen Leuten dann dort hingegangen?
SH: Genau, mit anderen Landsleuten, weil manche ältere Menschen konnten nicht so schnell Deutsch lernen. Es gibt manche Leute, die dann noch aus anderen Teilen gekommen sind und ganz schlechte Erfahrungen hatten im Krieg. Die waren dann nicht motiviert, die konnten dann nicht Anschluss finden.
MA: Also die dann auch irgendwie traumatisiert waren?
SH: Ja, ja. Und dann können Sie denen erzählen, was Sie wollen oder Unterricht machen, aber da kam nichts an. Ich weiß bei mir war es am Anfang, in den ersten paar Monaten, wo man mit den Gedanken eigentlich noch in Bosnien ist. Und dann sitzen Sie da und leben gar nicht. Dann hat dieser Nachbar, der mit mir war, gesagt, „Ja, wir sind hier, wir müssen hier leben, da muss man umschalten“. Und dann beginnt man Anschluss zu suchen, die Sprache intensiver zu lernen. Wir waren alle schon gewöhnt etwas zu lernen, wir haben alle studiert und dann ging’s vielleicht leichter. Aber für viele andere Menschen, es gab Leute die im gleichen Kurs waren, aber die konnten dann nicht mitmachen. Natürlich, wenn man da was helfen kann, hat man das auch gerne gemacht. Insofern war das für mich, als ich dann nach Heidelberg gewechselt habe, war das wieder ein Zeitgewinn, weil ich dann sehr viel Zeit hatte für mich und das braucht man wieder im Studium.
MA: Noch einmal kurz zur Anfangszeit: wie war es da so mit staatlichen, städtischen Behörden, gab es da Hilfen oder war es dann eher so untereinander wie Sie sich geholfen haben?
SH: Das ist in Deutschland eigentlich alles geregelt, es gibt ja keine Hilfe. Sie brauchen Visum verlängern, gehen zu einem Ort und brauchen bestimmte Papiere.
MA: Aber was für Erfahrungen haben Sie da gemacht? Hatten Sie das Gefühl, dass da eher eine Abwehrhaltung herrscht oder waren die Leute freundlich? Wie haben Sie sich da gefühlt?
SH: Also ich würde sagen, das war schon normal, die Menschen die dort arbeiten sind Beamte, sie arbeiten ihren Job, so wo wie sie es machen müssen. Sie brauchen bestimmte Sachen, die Sie mitbringen müssen. Es war dann Kriegszeit und irgendwie alle hatten, glaube ich, Mitleid mit den Menschen in Bosnien. Insofern war es alles klar, wenn jemand kommt. Gesetzlich war es so geregelt, dass dieses Visum oder diese Duldung, was es auch immer war, immer wieder verlängert wird. Alle waren immer ungewiss, wenn sie kommen, es hieß „Jetzt verlängern wir Ihr Visum auf sechs Monate“, gut. „Jetzt verlängern wir’s um ein Jahr“, okay. Das nächste Mal, „Seit gestern wir dürfen es nur noch auf sechs Monate“. Die Menschen haben das so gemacht, wie es war und wir hatten dann auch keine Wahl gehabt, aber auch Glück gehabt, denn später wurde es schwieriger. Als dann diese Abschiebung begonnen hat, dann gab es wieder nicht mehr diese Situation. Ich hab das dann wieder nicht mitmachen müssen, weil ich dann unmittelbar davor zum Studium hierhergekommen bin, habe dann ein Studentenvisum gehabt. Ich habe wieder Glück gehabt. Bei meiner Schwester war es anders. Wir haben alles zusammen gemacht. An einem Tag wollten wir das Visum verlängern gehen. Sie hat gearbeitet in einem Supermarkt, HL-Supermarkt an der Kasse, und konnte am Montag nicht. Ich bin gegangen und dann hieß es, „Wir haben vorher auf ein Jahr, jetzt kriegen Sie sechs Monate“, gut sechs Monate. Sie ist am Dienstag gegangen und man hat ihr gesagt „Wir beginnen mit der Abschiebung, Sie müssen das Land verlassen“. Nur um einen Tag ging‘s. Dann hat sie ein Visum für vier Monate bekommen, dann hat sie aber nichts bekommen und sich dann gemeldet und gesagt „Was mache ich jetzt, vier Monate bin ich schon da?“. „Ja, morgen kriegen Sie was“. Dann musste sie sozusagen gleich neu überlegen, wie das dann weitergeht und dann ist sie nach Dänemark gegangen. Manche, die dann doch später wie auch immer geblieben sind, sie haben bestimmt einen anderen Weg, Gründe suchen müssen, warum sie da sind, krank oder weiß ich nicht. Bei mir wieder war es ganz einfach: in der Zeit wo es Krieg war, haben alle Aufenthalt bekommen und eigentlich, da wo dann die Änderung gekommen ist, bin ich dann mit einem anderen Visum hierhergekommen, dann hatte ich als Studenten keine Probleme. Ich hatte in der Zeit noch ein bisschen Geld gesammelt, weil in diesen dreieinhalb Jahren habe ich voll gearbeitet und das braucht man auch um als Student, um ein Visum zu bekommen und ich hatte wieder Glück. Um dann wieder hier, um mein Studium zu finanzieren, weil normalerweise als ein ausländischer Student, darf man nur neunzig Tage im Jahr arbeiten, also nicht viel. Damit kann man ein Studium nicht finanzieren, vor allem jemand, der wie ich mit zweiunddreißig studiert und alle diese studentischen Vorteil nicht hat: man muss sich selbst versichern und alles und jenes kostet mehr. Ich hätte sicherlich nicht mit diesen neunzig Tagen ein Jahr schaffen können. Aber dann gab es wieder Ausnahmen für Krankenpfleger oder Berufe im Krankenhaus, dass man einen Halbtagsjob machen kann. Ich habe dann wieder eine Ausnahme bekommen, dass ich achtzig Stunden im Monat arbeiten darf, eine halbe Stelle. Und dann habe ich wieder während des Studiums mit meiner halben Stelle mein Studium finanziert. Es sind viele gute, sagen wir jetzt Zufälle oder keine Zufälle da, um etwas machen zu können.
MA: Wurde Ihnen dann Teile Ihres Studiums anerkannt? Sie waren ja schon fast fertiger Arzt.
SH: Also das Medizinstudium wurde eigentlich fast alles anerkannt, was jemand bestanden hat. Bei manchen anderen Studiengängen war es so, dass nichts anerkannt wurde. Ich kenne viele Leute, die im letzten Jahr oder kurz vor Schluss waren, die haben ihr Studium dann noch einmal komplett neu machen müssen. Mir wurde alles anerkannt, aber es sind andere Pläne. In Deutschland gibt es Examina und bei uns gibt es keine Examina. Wir haben einzelne Prüfungen. Sie bestehen einmal Pharmakologie und dann haben Sie das bestanden. Mir wurde insofern alles anerkannt, auf der anderen Seite musste ich noch einmal das erste Staatsexamen, das zweite Staatsexamen, praktisches Jahr und drittes Staatsexamen und so noch mal machen. Ich habe dann vom zweiten Jahr noch einmal alles gemacht. Das Physikum musste ich nicht machen, vom ersten Examen musste ich nur noch zwei Kurse machen. Aber es war für mich am Anfang schwierig, jetzt plötzlich da und mit anderem System. Wir haben immer ein Fach gelernt und dann lernt man nur das. Hier lernt man bis zum Examen elf oder mehr. Sozusagen habe ich dann noch einmal fünf Jahre hier studiert.
MA: Und Sie haben parallel dann als Krankenpfleger gearbeitet?
SH: Ja, um das zu finanzieren. Mit zweiunddreißig begonnen und mit siebenunddreißig fertig.
MA: Es war bestimmt eine harte Zeit, es hört sich anstrengend an.
SH: Ja, es ist nicht leicht. Aber es ist so, wenn man sich für etwas entscheidet und wenn da nichts anders ist, dann macht man das mit. Es ist auch eine schöne Zeit gewesen. Klar es ist natürlich anders wenn man mit fünfunddreißig studiert und wenn dann jemand mit neunzehn oder zweiundzwanzig kommt. Aber es ist so, man findet immer was, hier ist das Studium, so wie es sein soll, Sie haben die Möglichkeit im Rechenzentrum an den Computer zu kommen, Sie haben die Möglichkeit Uni-Sport zu machen. Sie haben alle Möglichkeiten. Man trifft dann auch Leute aus aller Welt, Bekanntschaften, man begegnet sich. Ich habe dann auch meinen Anschluss hier in Mannheim gefunden. Das ging dann meistens durch die Gemeinde. Ich habe auch in München Anschluss in eine Moschee gefunden, zumindest freitags da hingegangen. Dort habe ich sehr wenige Leute gekannt. Als ich in Heidelberg war, hieß es in Mannheim gibt es eine Moschee. Dann habe ich mich da gemeldet, da trifft man gleich Leute, automatisch. Sie kommen einmal, gut, manche sind da skeptisch, aber es ist ja so, da ist einer, der studiert und das finden die Leute schön. Da sind ja nicht so viele, die dahingehen, da werden Sie gleich zum Star dort. Aber man trifft dann gleich viele Menschen, mit denen man ganz normal in zwei Minuten plötzlich sitzt und Kaffee trinkt und erzählt und das war auch ganz gut. Ich hatte dann hier einen Freundeskreis und dann auch dort Studenten, war eigentlich wieder voll beschäftigt von allen Seiten.
MA: Sind Sie auch manchmal, als der Krieg dann fertig war, zu Ihren Eltern gereist?
SH: Am Anfang, als der Krieg fertig war, bin ich zunächst nach Zentralbosnien gegangen und meine Eltern sind auch dort hingegangen, um uns dort zu sehen für eine Woche. Und das nächste Mal habe ich gesagt, jetzt fahre ich direkt. Am Anfang war es schwieriger, es waren sehr viele Kontrollen und dann jedes Mal war weniger und weniger und immer normaler und normales. Also noch bevor ich geheiratet habe, bin ich immer so fünf Mal im Jahr nach Bosnien gefahren, also immer wenn ich ein paar Tage frei hatte. Jetzt mit der Familie fährt man eben, wenn man Urlaub hat ein, zwei Mal im Jahr.
MA: Wie kam es dann dazu, dass Sie nach Mannheim gezogen sind? Vielleicht erzählen Sie noch etwas dazu?
SH: Wie gesagt, ich war dann in Heidelberg und dann habe ich nach dem Studium auch dort einen Job bekommen. Ich habe dann in Heidelberg fünf Jahre gearbeitet.
MA: Als Arzt dann?
SH: Genau, ja, als ich fertig war. Dann habe ich eine Wohnung in Edingen bekommen, wieder über Leute, die ich hier in Mannheim gekannt habe. Dann kam ich in die Zeit, wo ich heiraten wollte. Und dann habe ich mir eine größere Wohnung suchen müssen. Da war ich immer noch in Heidelberg. Dann habe ich mir gesagt, es wäre nicht schlecht zumindest eine Wohnung an der OEG-Strecke, wo ich schnell einsteigen konnte. Da hab ich, gut, in Mannheim da kenn ich schon Leute und ich wusste schon, dass meine Frau auch Kopftuch trägt und dachte in Mannheim ist das nicht so auffällig wie woanders. Dann habe ich eine Wohnung in Mannheim gesucht. Es hat sich wieder ergeben, wie alles andere auch, „Ach, hier gibt’s eine Wohnung“ und dann haben wir die hier gefunden.
MA: Ihre Frau haben Sie dann in Heidelberg kennengelernt oder wo hatten Sie sie kennengelernt?
SH: Nein, sie war die ganze Zeit in Bosnien. Sie war während des Krieges in Bosnien und auch danach und hat auch dort studiert. Ich weiß nicht, über diese Internetseite, Leute, die Leute kennen. Mir hat auch jemand gesagt, dass eine Freundin von ihr war in Sarajevo. Und dann hat sie gesehen und dann hat sie es jemandem erzählt, der hat dann wieder mich getroffen und der hat schon gelacht, „Ja!“
MA: Also über Freunde haben Sie sich kennengelernt, aber in Bosnien dann?
SH: Genauso. Wir haben denn jemanden dort getroffen und die haben gelacht. Es erzählen alle, wenn Sie ledig sind, dann wollen sie Sie alle in der Familien haben.
MA: Sie wurden so ein bisschen verkuppelt?
SH: Ja. Nach einer langen Zeit bei diesen vielen Versuchen, glauben Sie nicht mehr daran. Jedes Mal kommt was oder man ist zu verschieden. Ich habe dann so spaßhalber eine Mail geschrieben, „Hallo, ja ich muss mich melden, jemand hat es mir gesagt, ich muss mich melden“. Und sie dann „Schön, dass Du Dich gemeldet hast“. Dann haben wir ziemlich schnell, glaube ich, uns verstanden, dann war ich bald danach im Urlaub in Bosnien und da haben wir uns auch gesehen.
MA: Was hat sie studiert, Ihre Frau?
SH: Sie hat auch erst Medizin studiert und dann hat sie gewechselt auf eine medizinische Hochschule, war dann im dritten Jahre, aber dann kam ich und jetzt ist sie hier. Sie hat aber auch eine Ausbildung als Krankenschwester, ja zumindest etwas.
MA: Arbeitet Ihre Frau zurzeit?
SH: Nein, die Kinder sind jetzt noch klein, ich denke es ist auch wichtig, dass wir lieber ein paar Euro weniger haben, aber dann hat sie mehr Zeit für die Kinder.
MA: Sie haben dann geheiratet und sie ist dann direkt nach Mannheim mit Ihnen gekommen?
SH: Sie brauchte natürlich auch ein Visum und das hat natürlich auch ein bisschen gedauert.
MA: Wie ging es eigentlich dann mit Ihrem Status weiter? Sie hatten dann das Studentenvisum und wie ist es dann weitergegangen, als sie dann fertig waren mit dem Studium?
SH: Normalerweise als Nicht-EU Bürger hat man dann keinen Grund hier zu bleiben. Wenn man das Studium abschließt, man kann diese achtzehn Monate, die es damals gegeben hat, als Arzt im Praktikum noch machen, weil das Studium angebunden ist und dann hat man eigentlich keinen Grund hier zu bleiben. Gut, dann hat sich wieder in Heidelberg aber ergeben, als ich das Praktikum gemacht habe, dass sie jemanden gebraucht haben und dann hat man gesetzlich was gesucht, womit man, weil bei Ärzten ist die Berufserlaubnis wichtig. Die Deutschen und EU-Bürger bekommen eine Approbation, die anderen brauchen eine Berufserlaubnis und um die zu kriegen, muss man einen Grund haben. Ich hatte keinen von den anerkannten Gründen dafür. Dann kam es wieder ganz zufällig, dass der Oberarzt dann beim Regierungspräsidium gesprochen hat und wollte da fragen, man sagte ihm „Das, das, das und das nicht und so geht es nicht“. Und dann hat er fast traurig gesagt, „Schade, er hat ein wissenschaftliches Projekt betreut, achtzehn Monate arbeiten wir daran, der kennst sich damit aus und wollten wir, dass er das weitermacht“. Dann sagte die Frau „Was haben Sie gesagt? Wissenschaftliches Projekt? Dafür gibt es eine Ausnahme“. Und da war ich ja als wissenschaftlicher Mitarbeiter dort. Also man bekommt immer eine Arbeitserlaubnis für ein Jahr für eine Abteilung, man konnte nicht aus der „Inneren eins“ in die „Innere zwei“ wechseln. Aber immerhin ein Jahr, also habe ich das fünf Jahre lang gemacht. Als meine Frau kam und als sie im Mai hier K 7 war, um ihr Visum zu bekommen, hat man meinen Pass gebraucht und ich hatte Visum bis September [Lacht]. Dann hat die Frau auch geschaut, gut. Dann später, ja im Moment werden in Deutschland Ärzte gebraucht und wenn man eine Klinik findet, die einen Arzt braucht, dann kriegt man eine Bescheinigung, dass im Interesse des Volkes das gegeben wird. Dann ist das wieder etwas, was ein Grund ist, eine Berufserlaubnis zu kriegen. So habe ich dann zwei Jahre in einer Reha-Klinik gearbeitet. Die Reha-Klinik Arbeit ist schwieriger, die haben dann auch jemanden gebraucht. Ich habe dann gleich am nächsten Tag den Job bekommen und auch schnell die Berufserlaubnis. Dann habe ich später aber etwas in Mannheim gesucht, weil wenn ich in Mannheim wohne, ist es dann auch besser. Jetzt bin ich in Mannheim auch mit der Arbeit. Das hat sich jetzt auch geändert, jetzt wo dieses Zuwanderungsgesetzt gekommen ist, habe ich jetzt natürlich unbefristeten Aufenthalt bekommen.
MA: Das ist jetzt erst seit 2000...
SH: 2008. Ja, weil das zählt nicht. Ich war schon einige Jahre da, aber die Jahre zählen nicht. Wenn ich jetzt in Deutschland Pass möchte, das ist ein sogenannter zweckgebundener Aufenthalt. Also Flüchtling, Studium und auch diese Zeit, wo ich später diesen Aufenthalt im Interesse des Volkes, das zählt dann alles nicht. Also sozusagen, ich weiß nicht was da war. Leute, die hier studiert haben, die brauchen auch fünf Jahre. Und diese fünf Jahre wurden bei mir erst ab 2005 gezählt, als das Gesetz gekommen ist, obwohl ich schon seit 2001 mit dem Studium fertig war und gearbeitet habe.
MA: 2005, was haben Sie da bekommen? Weil Sie eben Arzt sind haben Sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen?
SH: Nein. Ich habe immer nur… Man brauchte zunächst die Berufserlaubnis, dann kriegt man dann die Arbeitserlaubnis oder eine Bescheinigung, dass man keine braucht, je nach dem. Dann braucht man einen Arbeitsvertrag und dann ein Visum für ein Jahr.
MA: Sie haben weiterhin nur für ein Jahr?
SH: Ja, für ein Jahr, für ein Jahr. Und dann habe ich schon 2008 im September gefragt, „Könnte ich jetzt unbefristet kriegen? Ich bin ja schon sieben Jahre als Arzt tätig, hier studiert“, ob das auch zählt. Weil
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normalerweise hieß es, fünf Jahre nach dem Studium, wenn jemand fünf Jahre gearbeitet hat. Dann hieß es, nein, das zählt nicht. Nur nach dem Gesetz, das 2005 verabschiedet wurde. Meine Frau war zwei Monate später, um ihr Visum zu verlängern und dann haben sie ihr gesagt „Ja, der Mann kann auch kommen.“ Dann bin ich im November hingegangen und dann habe ich ein Visum auf unbefristet bekommen. Also erst 2008.
MA: Also kein Visum, sondern eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis?
SH: Ja genau, eine unbefristete Arbeitserlaubnis. Damit änderte sich auch beruflich, jetzt kriege ich diese Berufserlaubnis nicht nur für einen Arbeitgeber, sondern für das ganze Bundesland.
MA: Okay, also nur für das Bundesland?
SH: Meine Berufserlaubnis ist sozusagen auch befristet, ist aber auf Baden-Württemberg bezogen. Wenn ich jetzt von Mannheim nach Heidelberg oder Stuttgart wechseln möchte oder einen Job suche, dann brauche ich es jetzt nicht neu zu beantragen.
MA: Wenn Sie jetzt nach Ludwigshafen wollten, müssten Sie es neu beantragen?
SH: Kann ich nicht. Nein, in Ludwigshafen kann ich nicht arbeiten, also wenn ich dort eine Stelle bekomme, müsste ich von dem Regierungspräsidium von Rheinland-Pfalz eine Berufserlaubnis für Rheinland-Pfalz bekommen. Also beantragen, aber ich würde das jetzt wahrscheinlich leichter bekommen, weil ich ja einen unbefristeten Aufenthalt habe. Jetzt zum Beispiel einen Nebenjob in Ludwigshafen anfangen, geht nicht.
MA: Es hört sich so an, dass Sie im Laufe der Jahre ein halber Jurist werden mussten, um diese ganzen gesetzlichen Dinge zu verstehen. Es ist ja höchst kompliziert.
SH: Es ergibt sich alles von alleine. Sie brauchen etwas, Sie klopfen da und Sie sagen, was Sie brauchen. Wenn Sie irgendwo hinkommen, dann bekommen Sie eine Liste, „Sie brauchen das, das und das, wenn Sie es nicht haben, dann können wir nichts machen“. Und dann suchen Sie und so ergibt sich das.
MA: Wie war das so in den letzten Jahren mit der Unsicherheit, es war ja auch bestimmt eine Unsicherheit nie zu wissen, bin ich in einem Jahr noch hier oder nicht?
SH: Ja, das ist schwierig, wenn Sie jetzt im Juli eine Wohnung haben und Sie wissen nicht, ob Sie im September einen Job haben oder wo Sie dann einen Job haben, das ist natürlich nicht leicht. Man verdient am Anfang auch nicht so. Ich habe am Anfang eine Halbtagsstelle angenommen, dann eine Dreiviertelstelle und so. Es ist nicht so, dass man dann Geld hat und sagt, ich gehe jetzt woanders hin. Man hat eine Wohnung und einen Job, aber Berufserlaubnis oder Arbeitsvertrag ist bis September und was ist dann im Oktober? Das hatte ich dann eigentlich immer, die ganzen fünf Jahre. Später dann der nächste Vertrag war schon zwei Jahre. Zwei Jahre vergehen dann auch schnell, aber da weiß man schon, wenn ich den Job jetzt nicht hier bekomme, dann kriege ich ihn woanders, weil momentan ist es bei Ärzten nicht so schwierig. Wenn dieser Klink-Job nicht verlängert wird, dann bin ich woanders und dann ist es nicht so schlimm wie damals, als ich noch keinen Aufenthalt hatte. Ja, das hatte ich schon sechzehn Jahre.
MA: Genau das meinte ich, dieses Nicht-Wissen. Wenn jemand keine Arbeit hat kann man zum Arbeitsamt. Aber wenn man dann da automatisch des Landes verwiesen wird, das ist ja…
SH: Genau, da kann man dann nicht zum Arbeitsamt.
MA: Das ist ja dann vom Lebensgefühl wahrscheinlich so, dass man eine Unsicherheit spürt und nicht planen kann.
SH: So ist es, aber wenn man keine andere Wahl hat, dann muss man das in Kauf nehmen.
MA: Da, wo Sie jetzt arbeiten, da ist es jetzt auch unbefristet?
SH: Nein, bei Ärzten gibt es selten unbefristet, nur die Chefs haben eine unbefristete Arbeit. Es ist immer so ein Vertrag, je nachdem.
MA: Jetzt sind Sie im Diakoniekrankenhaus?
SH: Ja, das ist jetzt normal, man hat einen Vertrag auf drei oder vier Jahre, je nachdem, und später kuckt man wieder neu. Das ist jetzt ein normales Leben, wie für alle anderen. Ob man jetzt in einer Klinik arbeitet oder in einer anderen, das muss jetzt jeder selbst entscheiden. Wenn man Aufenthalt hat, dann ist es alles ein bisschen leichter.
MA: Sie haben ja vorhin schon gesagt, Sie haben sich entschieden hier zu bleiben, weil Sie hier das Studium besser machen konnten? Also gab es bei Ihnen auch manchmal den Gedanken woanders hinzugehen, nicht unbedingt nach Bosnien, sondern – Ihre Schwester ist zum Beispiel nach Dänemark gegangen. Gab es für Sie diese Option oder haben Sie sich relativ schnell entschieden, dass Sie dann hier bleiben?
SH: Es ist so, manchmal ist es ein bisschen ein Geschenk. Jetzt, wo ich fertig war mit dem Studium, ich könnte zurück nach Bosnien gehen. Aber in dieser Gegend, wo ich aufgewachsen bin, sind die Menschen jetzt nicht in der Uniform, aber diese Kriegszeit ist schon bemerkbar. Wenn ich jetzt als Muslim da bin, ist es schon ein bisschen komisch. Also es wäre ungewöhnlicher als hier. Ich würde gerne bei meinen Eltern sein, zu Hause, vielleicht in der gleichen Ortschaft als Arzt arbeiten, aber irgendwie man hat immer noch ein ungutes Gefühl, auch wenn jetzt keine Kriegszeit mehr ist. Und jetzt woanders zu gehen, bringt mir auch nichts. Da bin auch fremd genauso wie hier. Dänemark braucht auch Ärzte, aber dann muss man wieder eine Sprache lernen. Normalerweise braucht ein Mensch, würde ich jetzt so schätzen, fünf Jahre um sich einzuleben, Gewohnheiten von Heimischen zu kennen, Sprache zu lernen. Man ist jetzt nicht fünfundzwanzig, es ist jetzt nicht so, dass man sagt, „Okay, jetzt gehe ich da und beginne wieder neu“. Hier habe ich die Sprache schon gelernt und auch beruflich ein bisschen Erfahrung. So hat man nicht den harten Grund irgendwo weiter hinzugehen. So bleibt man dann. Ich finde es auch wichtig, die Menschen, die man neben dem Beruf trifft und kennenlernt, die kann man jetzt auch nicht mehr so schnell treffen. Als Student treffen Sie sehr schnell eine Gruppe von fünfzehn Leuten im ersten Kurs. Als ich nach Heidelberg kam, da gibt’s eine Orientierungswoche. Gleich am ersten Tag eine Gruppe von fünfzehn Leuten. Drei Tage zusammen und dann haben wir uns jede Woche donnerstags abends in der Mensa getroffen. Jetzt neben der Arbeit schaffe ich es nicht einmal die Leute zu besuchen, die ich schon kenne. Und jetzt zu wechseln an einen anderen Ort, selbst wenn ich jetzt sage, ich fahre nach Frankfurt, dann muss ich wieder neu beginnen. Dort muss man Leute kennenlernen und sehen, wem man glaubt, wem man nicht glaubt, wem man vertrauen kann, wem man nicht vertrauen kann. Und hier gibt es schon Menschen, die ich schon fünfzehn Jahre kenne. Als ich geheiratet habe, habe ich eine Mail geschrieben: „Leute, wir kommen am Mittwoch, am Donnerstag treffen wir uns und dann gibt es ein gemeinsames Abendessen“. Da waren dann zweihundert Leute. Ich habe keine Karte geschickt oder eine Einladung, so wie man das normalerweise macht. Nur, „Gut, da treffen wir uns“. Da war meine Koronar-Sportgruppe aus Heidelberg, die ich dort betreut habe, das war auch lustig. Dann kamen meine Leute aus der Gemeinde und Bekanntschaften und es waren sehr viele nicht da, die unter der Woche nicht kommen konnten. Um das zu schaffen, braucht man auch eine gewisse Zeit. Deshalb bin ich jetzt niemand der sagt, ich würde unbedingt weg. Auch wenn ich eine bessere Stelle in einer Klinik woanders bekommen würde, würde ich auch nicht gehen. Also wenn ich jetzt ein Angebot hätte, woanders tausend Euro mehr zu verdienen, würde ich auch nicht gehen. Jetzt bin ich hier. Ich kenne hier Leute. Ich hatte Besuch von einer Familie, die auch in Deutschland ist, aber aus dem gleichen Ort kommt, dann sind wir durch Mannheim gegangen. Wir waren einkaufen, ganz kurz. Als wir zurück kamen erzählt der Sohn, „Mama, hier ist es wie in Bosnien, wenn wir durch die Stadt gehen, dann ‚Hallo, hallo, wie geht’s‘.“ Wir haben scheinbar ein paar Leute getroffen und egal, für ihn war das ungewöhnlich, weil in der Stadt, wo sie leben, Göttingen, wahrscheinlich ist es nicht so. Ich habe jetzt nicht nur Landsleute getroffen, ich habe alle möglichen getroffen. In dieser kurzen Strecke habe ich bestimmt mehrere getroffen, begrüßt und der Junge, „Hey, hier ist es wie in Bosnien, da kann man auf der Straße sehr viele Leute treffen“. Das ist auch wichtig hier.
MA: Sie haben eine schöne Überleitung zum Thema Mannheim gegeben. Sie haben vorhin ja schon erwähnt, dass Sie sich hier scheinbar wohl fühlen.
SH: Da muss ich schon sagen, da bin ich überzeugt, dass es so ist. Weil auf der einen Seite gibt es sehr viele ausländische Mitbürger, es ist ja schon bunt. Auf der anderen Seite gibt es ja auch sehr viele Landsleute. Und jetzt als Muslim in Deutschland zu leben, hier gibt es auch sehr viele Muslime. Es gibt auch sehr viele Geschäfte, wo man auch einkaufen kann, was dann auch wichtig ist, wie beim Fleisch und so. Wenn man das alles so zusammen sieht, für jemanden der jetzt in einem Land lebt, das nicht sein Heimatland ist, würde ich sagen, fast alles, was ich brauche, finde ich in Mannheim. Und das ist für mich dann auch wichtig.
MA: Also das heißt, dass Sie das als positiv empfunden haben, dass hier auch so viele Migranten einfach leben?
SH: Man versteht sich. Entweder verstehen sich die Migranten unter sich gut, da sind sehr viele Menschen die mit Migranten verheiratet sind, also Deutsche, die dann auch ein anderes Verständnis haben. Gut, wenn sie schlechte Erfahrungen haben, klappt natürlich auch das nicht. Und das merkt man schon, ich finde, egal wem man begegnet, auch Leute von der Stadt oder Politik, die haben dann auch ein Ohr auch für Migranten. Irgendwie stößt man überall auf Verständnis, so hab ich den Eindruck. Irgendwie fühl ich mich dann wohl in der Stadt, in Mannheim.
MA: Haben Sie den Eindruck, dass die übrigen Mannheimer auch zu den Migranten eher positiv eingestellt sind? Oder haben Sie da auch andere Erfahrungen gemacht, oder auch Diskriminierungserfahrungen?
SH: Natürlich die Menschen sind unterschiedlich und man kann alle Erfahrungen machen. Aber man muss auch verstehen, es ist normal, auch wenn ich in meiner Heimat bin, sind auch nicht alle mir gegenüber freundlich. Solange das jetzt nicht eskaliert oder es nicht schlimm ist und wenn man den einen oder anderen trifft, der nicht freundlich ist, dann ist er wahrscheinlich auch anderen gegenüber unfreundlich. Menschen, die unfreundlich sind, sind allen Menschen gegenüber unfreundlich. Das würde ich jetzt nicht so betonen. Wenn einen mal etwas trifft oder was nicht gut läuft, dann ist man ein paar Tage schlecht gelaunt und dann geht es wieder weiter. Man weiß, dass nicht alles so sein kann, wie man sich das wünscht. Wenn man es aber realistisch betrachtet, ist es eigentlich ganz schön. Sie können hier Ihr Leben leben, die Kinder gehen in den Kindergarten. Meine Frau geht auch mit dem Kopftuch ganz normal einkaufen. Ich bin auch bei der Arbeit. Je nachdem wie gut ich meine Arbeit mache, wenn ich das gut mache, dann schätzen das die Kollegen, wenn ich etwas nicht gut machen, dann... Dementsprechend finde ich, das ist eigentlich normal.
MA: Finden Sie politisch, dass die Migranten hier gut vertreten sind? Also, dass ihre Interessen in der Stadt gut vertreten sind?
SH: Es ist natürlich auch so, dass Migranten sich auch nicht viel engagieren. Ich kenne das auch ein bisschen. Wenn Sie dann in einem Verein sind und dann habe ich ja noch studiert, da hat man sich gerne auch als Vertreter… Auf der anderen Seite kann ich das jetzt nicht mehr machen, weil ich habe keine Zeit. Aber ich weiß, dass es immer schwierig ist, jemand zu gewinnen, dass er sich engagiert. Dass im Verein jemand gesagt, „Okay, es gibt einen Migrationsbeirat, geh mal hin und hör mal was da alles erzählt wird“. Dort müssen die Leute erzählen und dann verspricht er Ihnen, dass er mal geht. Und dann war er einmal und hat das nächste Mal wieder keine Zeit. Auch von der Seite der Migranten ist es schwierig, Leute zu gewinnen, die sich engagieren. Weil da muss man… Egal, ob das jetzt eine Sitzung des Migrationsbeirates ist oder wenn man in eine politische Partei geht, da muss man sehr viel Zeit investieren. Scheinbar sind die Menschen schlau, sie investieren lieber Zeit in etwas anderes, wovon sie selbst profitieren und dann ist es schwierig. Deshalb sage ich, dass es nicht mehr ist, liegt jetzt auch zum Teil an der Seite der Migranten. Also wenn man es jetzt so im Groben sieht, dann muss man schon sagen, die Stadt bemüht sich immer mehr und ich denke auch politische Parteien, zumindest habe ich den Eindruck, dass die auch einen Anschluss suchen oder ein Gespräch suchen. Das finde ich auch positiv. Es ist schon ziemlich gut. Klar kann man vieles noch verbessern. Das sind Sachen, die auch Zeit brauchen. Man braucht auch Menschen, die daran arbeiten, die bereit sind, sich auch da zu engagieren. Menschen sind heutzutage natürlich nicht bereit, etwas zu machen, wo es kein Geld gibt und wofür man kein Interesse hat. Das ist schwierig.
MA: Was ist für Sie typisch Mannheim? Also ganz typisch für Mannheim?
SH: Ich würde ganz spontan sagen, diese bunte Mischung. Vielleicht gibt es auch andere Städte in Deutschland, die das auch haben. Aber das ist schon, fast die ganze Welt ist da, wenn Sie durch die Stadt gehen und die Läden sehen dann ist eigentlich alles dabei.
MA: Gibt es einen Ort hier in Mannheim, wo Sie sagen, das ist mein Lieblingsort oder da bin ich am liebsten?
SH: Bei mir gibt es so etwas glaube ich nicht. Ich bin überall gerne. Ich bin lieber da wo es schön ist, lieber im Park als irgendwo in einem Viertel, das nicht gepflegt ist oder wo die Straße nicht regelmäßig geputzt wird. Ich bin von morgens bis abends meistens bei der Arbeit und abends dann hier zu Hause. Einen Lieblingsort habe ich aber nicht, nein.
MA: Nochmal zurück in die Vergangenheit. Wie war es, als Sie weggegangen sind, hatten Sie da eine Vorstellung von Deutschland, was haben Sie sich so vorgestellt oder war es eigentlich in dem Moment egal?
SH: Ich hatte keine Vorstellung, selbst wenn ich eine gehabt hätte, wäre diese sicherlich ganz anders als die Realität. Man kann sich nicht eine Vorstellung machen, von etwas, was man noch nicht gesehen hat und was man nicht kennt. Ich bin so jemand, der sich auch keine Gedanken macht, „Wie sieht’s aus?“ Ich musste dann in einem Moment von Punkt A zu Punkt B. Als ich in Kroatien war, war die Überlegung „Naja, wohin?“. Da war es schon relativ spät, weil dann sehr viele bosnische Flüchtlinge schon gegangen waren. Da waren die Deutschen schon voll, da gab es schon fast ein Flüchtlings-Stopp. Da gab es die Möglichkeit nach Skandinavien zu gehen, Schweden. Wenn Sie in Zagreb sind als bosnischer Flüchtling, dann konnten Sie gleich in einen Bus einsteigen, der Sie nach Stockholm bringt, bosnische Flüchtlinge, ich glaube nach Holland gab es noch was. Alle anderen europäischen Länder haben ihre Quote schon erfüllt. In diesem Moment, da gibt es immer die Überlegung, „In welche Richtung gehe ich?“. Und dann hieß es „Okay, wenn ich nach Deutschland gehe, dann kann ich schon ein bisschen Deutsch, dann kann ich leichter mich verständigen“. Das war dann leichter für mich. Ich hab dann versucht lieber nach Deutschland zu gehen, weil ich bin dann auch näher. Wenn Sie von hier nach Bosnien, dann ist es ein Unterschied von tausend Kilometern. Von hier kann ich an einem Tag mit dem Auto in Bosnien sein und von Schweden brauche ich zwei Tage. Und dann haben wir diese zwei Überlegungen und eigentlich meine ganze Nachbarschaft aus dem Ort, wo ich herkommen, sind jetzt alle in Schweden und Dänemark. In Deutschland sind die, die eigentlich gleich gegangen sind. Das waren wieder diejenigen, die hier Bekannte und Verwandte hatten, die Einladungen geschickt haben. Alle, die so wie ich gewartet haben und es dann in einem Moment hieß, jetzt muss man gehen. Da war es dann schon überall voll, Österreich war schon längst voll und die Schweiz sowieso. Und dann, wenn Sie in Zagreb in Kroatien sind und Sie haben keine andere Möglichkeit, dann kommt jemand und packt Sie in den Bus und bringt sie nach Schweden. Ich habe innerlich gedacht, „Lieber nach Deutschland, da kann ich schon die Sprache lernen, dass ich es dann ein bisschen leichter habe“ und dann hat es geklappt.
MA: Aus dem Rückblick betrachtet, würden Sie es heute wieder so machen oder haben Sie es bereut es so gemacht zu haben oder würden Sie es auch wieder so machen?
SH: Nein, ich habe es nicht bereut. Ich weiß nicht, was ich besser machen könnte. Jedes Mal gab es keine andere Möglichkeit. Wie ich auch vorher erzählt habe, ich hatte jedes Mal auch wieder Glück, dass jede kritische Situation wieder einen glücklichen Ausgang hatte. Es gibt ja auch ganz andere Geschichten. Vom Ort, wo man gewohnt hat, von der Reise, die Menschen haben ganz andere Geschichten. Auch hier, ich kenne Leute, die mit mir studiert haben, die weniger hatten, um das Studium dort abzuschließen, die dann hier nicht studieren konnten, weil sie Familie hatten. Jemand ist gekommen, dann hat er geheiratet, während dieser drei Jahre Kriegszeit, dann hat er zwei Kinder. Jetzt hätte er vielleicht nur vier Prüfungen machen müssen, aber studieren kann er jetzt nicht. Bei mir war es so, ich war nicht verheiratet. Ich konnte nochmal fünf Jahre studieren. Wenn man nur für eine Person braucht, dann reicht das Studentenwohnheim und ein Job, aber mit der Familie würde ich das Studium nicht abschließen können. Es gibt ja Menschen, die genauso ins Studium investiert haben, dort genauso studiert haben und dann haben sie es aber hier nicht abgeschlossen. Ich habe einen in der Schweiz getroffen, der hat sein Studium abgeschlossen. Seine Frau war im Pflegeheim, sie hat dann auch einen Job gefunden. Dann sagte er, „Ja, wir sind hier, das Kind geht hier in den Kindergarten, wenn ich in der Schweiz einen Job als Arzt suche, dann muss ich wer weiß wohin gehen“. Er hat sich zufrieden gegeben und arbeitet im Pflegeheim. Es gibt, wie gesagt, viele, die es dann nicht geschafft haben abzuschließen. Wenn ich das alles sehe, dann denke ich okay, ich habe das immerhin alles geschafft. Dafür habe ich später geheiratet und es sind jetzt kleine Kinder bei mir. Aber anders ging‘s nicht und mit der Entwicklung bin ich sehr zufrieden. Ich habe nichts zu bereuen und ich kann auch nicht sagen, dass etwas nicht schön war. Für mich war das alles schön. Und ich habe es auch in meiner Zeit hier in Heidelberg als Student schön gehabt, weil Heidelberg auch die Altstadt schön ist und das Studium. Und hier in Mannheim ist es keine Studienzeit, aber gut, jetzt verdiene ich etwas und die Familie ist da. Und wenn ich Freizeit habe, dann weiß ich jetzt wann und wo ich welche Leute treffen kann. Das ist dann auch gut. Mehr braucht man nicht.
MA/SH: [Gespräch über das Sammelinteresse des Stadtarchivs Mannheim]
MA: Gut, unser Interview ist eigentlich zu Ende, ich danke Ihnen wirklich sehr, dass Sie sich die Zeit genommen haben und Ihre Erinnerungen erzählt haben.
SH: Gerne, kein Problem.
Produktionsbeteiligte:Interviewerin: Maria Alexopoulou
Playing time:1:11:21
Ton:nur
Angaben zum Erwerb:D 51
Alte Signatur:Zugang 9/2014 Nr. 9
 

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Physical Usability:Uneingeschränkt
Accessibility:Öffentlich
 

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